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Rückbesinnung am Straßenrand

Mit Kreuzen geben sich Hinterbliebene von Unfallopfern einen Ort der Trauer

Vom 19.11.2005, Wiesbadener Tagblatt

In Sekunden sind die Autofahrer an ihnen vorbeigefahren - an den Kreuzen am Rande der Straße. Und nur selten wird ein Gedanke daran verschwendet, dass jedes dieser Kreuze für die große Trauer der Angehörigen steht, deren Sohn, Tochter oder Ehepartner durch einen Unfall urplötzlich aus dem Leben gerissen worden ist.


Von Manfred Knispel

Wer mit offenen Augen in und rund um Wiesbaden unterwegs ist, der muss einfach staunen, wie viele dieser Kreuze am Rande der Straßen stehen. Manche sind schon verwittert und werden nicht mehr gepflegt, andere sind mit frischen Blumen geschmückt oder ähneln gar Grabmalen auf Friedhöfen. Bilder sind an die Kreuze geheftet, meist zeigen sie junge Menschen, die ganz offensichtlich einst Freude am Leben gehabt haben. Oder es liegen kleine Stofftiere und Puppen an den Kreuzen, manchmal auch ein Stück Papier, auf dem der Text schon lange verblasst ist.

Nur ein einziges Wort und ein Datum stehen zum Beispiel auf dem Kreuz an der Hühnerstraße in Höhe der Abfahrt nach Ehrenbach: "Rosi" und "3.6.2004". Ein paar gelbe Blumen aus Plastik zieren das Kreuz, ansonsten wirkt es vergessen. Und doch erzählt auch dieses Kreuz eine Geschichte. Die Frau, "Rosi", die hier starb, war 64 Jahre alt. Mit ihrem Fiat-Panda war sie damals unterwegs, sie wollte Pilze sammeln. Als "ein wenig alternativ" beschrieben Freunde sie später der Polizei. Zu ihrem Lebensstil gehörte auch das winzige alte Auto und ihre standhafte Weigerung, sich anzuschnallen. Ein 65-jähriger Autofahrer aus Eschenhahn nahm ihr an jenem Tag die Vorfahrt.

Ganz anderes sieht es am Wiesbadener Gustav-Stresemann-Ring aus. Zwei Kerzen brennen, frische Blumen stehen in Vasen, blühende Alpenveilchen sind davor in Form eines Herzens gepflanzt. Seit drei Jahren gibt es diese Gedenkstätte. Ein großes Foto zeigt einen jungen Mann, Mirsad S. war sein Name, 22 Jahre alt ist er geworden. Am 19. November 2002 war er Beifahrer in einem von zwei Autos, die sich mit Tempo 100 offenbar in Richtung Berliner Straße ein Wettrennen lieferten. Auch hier war es der Zufall, der innerhalb von Sekundenbruchteilen über Leben und Tod entschied: Einer der beiden Fahrer erschrickt, weil aus der Mainzer Straße ein Feuerwehrauto mit Blaulicht kommt. Das Auto überschlägt sich, das andere prallt mit voller Wucht dagegen.

Wer nachfragt nach den "Geschichten der Kreuze", der stößt immer wieder auf diese Zufälle, die zum Schicksal werden. Ein paar Meter mit Raureif auf einer ansonsten trockenen Straße - ein Auto kommt darauf ins Schleudern, zwei junge Frauen sterben. Der defekte Scheibenwischer und der plötzlich einsetzende Regen - ein junger Fahrer sieht ein entgegenkommendes Auto zu spät. Die Zehntelsekunde Unachtsamkeit  - und ein Autofahrer übersieht den überholenden Motorradfahrer.

Kaum einer kann die Bedeutung der Kreuze am Rand der Straße so beurteilen wie Andreas Mann. Er hat in vielen Fällen erlebt, dass der Tod eines geliebten Menschen durch einen Unfall stets ein "Einschnitt im Leben ist, über den nur schwer hinwegzukommen ist". Der evangelische Pfarrer ist Notfallseelsorger und deshalb in vielen Fällen bei schwersten Unfällen als einer der ersten vor Ort. Mann glaubt: "Die Menschen wollen einen Ort der Trauer finden." Und diesen Ort fänden sie oft nicht auf dem "neutralen" Friedhof, sondern dort, wo das Schicksal zugeschlagen hat. Eine Anleitung eines Seelsorgers bräuchten sie dazu nicht, "die Menschen kommen fast alle von alleine darauf".

Die Kreuze nämlich, sagt der Notfallseelsorger, stehen genau dort, wo der Kontakt zum Verstorbenen abgerissen ist. Der Unfalltod mache den Angehörigen urplötzlich deutlich, dass vieles noch ungesagt sei, dass vielleicht auch der eine oder andere Konflikt mit dem Toten nicht gelöst war und nun auch niemals gelöst werden wird. Deshalb sei es vielen auch so wichtig, Briefe zu hinterlegen, in denen dann all die Dinge stehen, die eigentlich noch zu sagen waren.

Natürlich weiß der Pfarrer, dass viele seiner Kollegen den Kreuzen an der Straße eher kritisch gegenüber stehen. Trauerarbeit gehöre auf den Friedhof oder in die Kirche, sagen sie. Die Kreuze seien hingegen "Nebenaltare". Mann sieht es nach eigenen Worten eher "pragmatisch": Das Kreuz könne helfen bei der Trauer, es gebe der Trauer "eine Gestalt". Der Friedhof hingegen werde von vielen Angehörigen zumindest in der ersten Zeit nach dem Unfall als ein "bürokratischer Ort" gesehen, auf dem persönliche Elemente wenig Platz fänden.

Dass die Kreuze irgendwann nicht mehr intensiv gepflegt werden, hält er indes für ganz normal. Auch auf Friedhöfen sei das zu beobachten. Der Ort der Trauer werde irgendwann unwichtiger, die Trauer wandere von der Örtlichkeit in das Herz oder den Kopf der Menschen. "Trauer braucht ihre Zeit, aber Trauerbewältigung ist gesund", sagt der Pfarrer.

Früher sei den Menschen ein Trauerjahr gegeben worden, in dem sie schwarze Kleidung trugen als Zeichen, dass sie einen Menschen verloren haben. Heute hingegen gelte, dass Menschen funktionieren müssten. Gerade dann aber sei möglicherweise der Ort wichtig, an dem sich ein Unglück ereignet hat - als "Ort der Rückbesinnung". Als Beispiel nennt Mann die Angehörigen der Tsunami-Opfer. Nahezu alle deutschen Opfer seien inzwischen identifiziert und in ihrer Heimat beigesetzt. Und doch wisse er, dass die meisten Hinterbliebenen zum Jahrestag der Katastrophe nach Asien fahren wollen.

Doch darüber hinaus haben für Mann die Kreuze am Straßenrand noch eine weitreichendere und auch für andere wichtige Bedeutung. Für Sekunden machten sie den Vorbeifahrenden auf stille Weise deutlich, dass "hier an dieser Stelle das Getriebe unserer hochmobilen Gesellschaft einmal nicht richtig funktioniert hat".